Wenn das Auto zum Surfbrett wird

Aquaplaning heißt das Schreckgespenst des Fahrens auf regennasser Fahrbahn, wenn das Auto plötzlich auf einem Wasserkeil aufschwimmt. Der Fahrer verliert für bange Sekunden die Kontrolle über sein Fahrzeug – und oft auch die Nerven. Völlig ausgeliefert ist man dem aber nicht.

Robert Kaufmann hat es eilig. Der Flieger in Frankfurt am Main wartet nicht. Es regnet unablässig, es ist viel Verkehr wie immer morgens um diese Zeit auf der A3. Nur kurz konnte er sich eine Stunde zuvor von seiner Frau verabschieden. Der Regen nimmt zu. Die Scheibenwischer huschen jetzt in Stufe II über die Windschutzscheibe, geben im kurzen Takt die Sicht frei auf die nasse Autobahn. Gischtfontänen verwirbeln hinter seinem Vordermann, lassen das blaue Autobahnschild nur schemenhaft erkennen. War das schon die Abfahrt zum Flughafen? Kaufmann setzt den Blinker, schert nach links aus, endlich vorbei an dem weißen Lieferwagen. Dumpfe schmatzende Geräusche dringen von unten ans Ohr. Kaufmann registriert nur kurz, dass der Drehzahlmesser hochschnellt, das Auto aber nicht mehr beschleunigt. Im Lenkrad ist kein Widerstand mehr, wie weggeblasen. Sein Puls schnellt in die Höhe, das Auto gehorcht nicht mehr. Intuitiv bremst der Geschäftsmann, doch nichts geschieht. Panik ergreift ihn. Sekundenbruchteile später, die ihm wie Minuten vorkommen, geht ein heftiger Ruck durchs Fahrzeug. Lenkung, Bremse, Motordrehzahl – alles wieder da. Kaufmann atmet immer noch heftig, als er den nächsten Parkplatz ansteuert. Das Nervenkostüm noch zerknittert, ruft er seine Frau an. Der Flieger – der interessiert Kaufmann nicht mehr. Er lebt. Sein Termin muss warten.

Physik des Aufschwimmens

Viele Autofahrer trifft das Phänomen des Aquaplanings völlig unvorbereitet. Was genau passiert dabei eigentlich physikalisch? Bei Regen bildet sich ein Wasserfilm auf der Straße, der sich ab einer bestimmten Geschwindigkeit wie ein Keil vor und bald unter dien Reifen schiebt. Es entsteht regelrecht eine Bugwelle, auf der der Reifen hochgleitet. Das Auto schwimmt also quasi auf der Fahrbahn, weshalb auch oft von „Aufschwimmen“ die Rede ist. Was bei Windsurfern hoch erwünscht ist – der Wechsel vom langsamen Verdrängen zum viel dynamischeren Gleiten – ist bei Autos dramatisch, denn das Surfbrett lässt sich noch steuern. Das Auto nicht.

Lebensretter ESP ohne Funktion

Zugegeben: Heutige Autos und moderne Reifen lassen meistens hohe Geschwindigkeiten bei Regenfahrten zu. ESP*, ABS, Spurwechselassistent, Airbags und ausgeklügelte Knautschzonen, die niedrige Geräuschkulisse – all das wiegt uns in echter, aber auch trügerischer Sicherheit. Denn die Fähigkeit selbst der besten Reifen, das Wasser von der Fahrbahn in den Kanälen und Rillen in ihrem Profil aufzunehmen und seitlich und nach hinten literweise abzuleiten, ist nicht unbegrenzt. Das Fatale: Alle erwähnten segensreichen elektronischen Assistenten versagen jetzt, denn die Sicherheitskette ist gerissen. Ein entkoppelter Reifen überträgt nicht mehr die rettenden Stabilitäts-Befehle des ESP*, die bei trockener Fahrbahn doch immer so wunderbar funktionieren. Sie verpuffen buchstäblich im Nichts.

Das ist das Tückische an Aquaplaning – es geschieht schlagartig. Deshalb lässt es sich auch nicht mit dem Rutschen auf verschneiter oder vereister Fahrbahn oder mit dem Aus-der-Kurve-Rutschen auf trockener oder feuchter Fahrbahn vergleichen: Hier baut sich die „Dramatik“ deutlich langsamer, nicht punktuell auf. Der Fahrer erlebt da eher, dass sich eine unangenehme Situation entwickelt.

Ist die Vorderachse erst einmal aufgeschwommen, sind Fahrer und Fahrzeug jetzt bei hohem Tempo Spielball der Kräfte. Die Lenkung reagiert nicht mehr, das ohnmächtige Gefühl der Hilflosigkeit und des Kontrollverlusts stellt für die meisten Autofahrer eine völlige Überforderung dar. Und eine massive Gefahr, denn in diesem Schwebezustand droht höchstes Unfallrisiko. Wer jetzt bremst oder lenkt und damit die Räder schief stellt, verschlimmert die Situation sogar dramatisch: Wenn die sich im Wasserschwall automatisch selbst abbremsenden Reifen kurze Zeit später wieder Haftung aufbauen können und schlagartig Kräfte in die falsche Richtung übertragen, ist das der ideale Nährboden für heftiges Schleudern. Jetzt ist der Unfall unvermeidbar.

Technische und menschliche Ursachen

Gesunder Menschenverstand und fahrerische Routine lassen viele von uns erkennen, ob wir uns auf nasser Fahrbahn noch im „grünen Bereich“ bewegen oder bald die Grenze überschreiten. Doch Abgelenktheit oder Zeitdruck, aber auch technische Ursachen wie zu geringe Reifenprofiltiefe oder verschlissene Stoßdämpfer können diese Aufschwimmgrenze deutlich nach unten fahren. Auslöser für das Aufschwimmen der Reifen sind oft auch durch den Schwerverkehr ausgefahrene tiefe Spurrinnen. Hier sammeln sich zentimetertiefe Pfützen, die bei deutlich geringerem Tempo als erwartet das gefürchtete Aquaplaning auslösen können.

Wie aber kann ein Autofahrer vermeiden, dass er unfreiwillig zum Schwimmer wird? Es gibt durchaus Warnzeichen, die es nur zu erkennen gilt:

Außerhalb des Fahrzeugs:

  • starker Dauerregen oder Regenbrüche
  • spiegelnde Wasserflächen neben und auf der Fahrbahn
  • Sichtbehinderung durch Gischt von vorn
  • Fahrbahnsenken, oft vor Anstiegen
  • unebener Straßenbelag und geringe oder gar keine Straßenneigung

Im Fahrzeug selbst:

  • platschende Geräusche aus dem Bereich der Kotflügel
  • Lenkrad wird leichtgängiger
  • tanzende Drehzahlmessernadel
  • blinkende ESP-Kontrollleuchte im Cockpit

Ruhe bewahren und richtig handeln

Gegen das eigene Gefühl sollte der Autofahrer jetzt auf keinen Fall lenken oder bremsen! Das verschlimmert die Situation nur. Vielmehr heißt es jetzt: Lenkrad mit beiden Händen festhalten und nicht bewegen. Langsam vom Gas gehen (nicht ruckartig), die Kupplung treten und so belassen (bei Automatikfahrzeugen: Stellung N wählen). Gaspedal völlig loslassen, nicht bremsen, nicht lenken, abwarten. In den meisten Fällen geht mit diesen „Tricks“ die Sache glimpflich aus: Die Reifen packen bald wieder, müssen aber keine zusätzlichen Kräfte übertragen. Dann passiert beim „Wiedereintritt“ nichts weiter, nur ein Ruck kündigt davon, dass alles wieder okay ist. Zur Verdeutlichung ein paar Zahlen: Wer bei Tempo 100 aufschwimmt und wenn der Schreck nur drei Sekunden andauert, hat sich das Fahrzeug in dieser Zeit 83 Meter unkontrolliert weiterbewegt – das ist mehr als eine Fußballfeldlänge, in der der Autofahrer absolut keine Kontrolle hat über das, was nun geschieht. Bei 140 km/h sind es bereits 120 Meter. Das verdeutlicht die besondere Gefahr des Aquaplanings, weil der Prozess nach dem Aufschwimmen völlig unkontrolliert abläuft.

Es gibt übrigens keine Grenz-Geschwindigkeit, keine Faustregel, bis zu der man sorglos durch den Regen pflügen kann und oberhalb derer man in Gefahr ist. Je nach Reifengüte, Regenstärke, Wasserfilmhöhe auf der Fahrbahn, Fahrzeuggewicht und anderen Faktoren können 130 km/h noch vertretbar sein – oder Tempo 80 schon deutlich zu viel. Die Industrie arbeitet an Aquaplaning-Warnsystemen, doch in naher Zukunft dürfen wir serienreife Geräte nicht erwarten. Bis dahin heißt es, die eigenen Sinne zu sensibilisieren und mit der oft zitierten „angepassten Geschwindigkeit“ zu fahren. Neben der Fahrgeschwindigkeit ist aber vor allem die Reifenprofiltiefe von entscheidender Bedeutung: Ideal sind natürlich Neureifen mit ihren sieben bis neun Millimetern. Als Faustregel gilt, dass Sommerreifen spätestens bei 3, Winterreifen bereits bei nur noch 4 mm ausgetauscht werden sollten. Die gesetzlich zulässigen 1,6 mm Restprofiltiefe sind im Prinzip indiskutabel und haben nur historische Bedeutung. Bei Regen sollte man mit solchen Reifen aufs Autofahren besser ganz verzichten.

Aber auch der Reifenfülldruck entscheidet mit über Aufschwimmen oder sicher rollen: Zu niedriger Fülldruck erhöht das Aquaplaningrisiko deutlich, weil die Aufstands-fläche nicht optimal auf der Straßenoberfläche aufliegt. Ideal sind der vom Hersteller empfohlene oder gar ein leicht erhöhter Reifendruck.

Eigenverantwortung

Gerichte und Versicherungen gehen übrigens bei Aquaplaning-Unfällen nahezu immer von einem Selbstverschulden aus. Auch wenn viele Autofahrer argumentieren, sie seien wegen schadhaftem Fahrbahnbelag von der Straße abgekommen und somit stünden Bund, Land oder Gemeinde in der Verantwortung, für einen ordentlichen Regenablauf zu sorgen. Tatsächlich stehen die Autofahrer hier in der Eigenverantwortung: Niemand ist schließlich gezwungen, bei regennasser Fahrbahn unangemessen schnell zu fahren. Das oft missachtete Zusatz-Verkehrsschild „bei Nässe“ deutet übrigens auf besonders Aquaplaning-gefährdete Straßenabschnitte hin und ist alles andere als oft empfundene Autofahrer-Gängelung.

Text: Dirk Vincken

*ESP: Elektronisches Stabilitäts-Programm; leitet bei Erkennen von Schleudervorgängen gezielte und selektive Bremsmanöver an den einzelnen Rädern ein, was Schleudern im Keim erstickt; funktioniert nur bei ausreichend Haftung an allen vier Rädern auf der Fahrbahn.

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